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25.12.2001: Kath. Gottesdienst aus Brilon    
     
Predigt: Da haben die Dornen Rosen getragen
     
Da haben die Dornen Rosen getragen
Predigt von Probst Dr. Wiesemann am 25.12.2001 in Brilon

An Weihnachten, liebe Mitfeiernde an den Fernsehgeräten und hier in unserer Propsteikirche, an Weihnachten steigen in mir die Bilder meiner Kindheit, meines Elternhauses, meiner Familie auf - Bilder von Geborgenheit und Geheimnisfülle, von Schauen und Staunen, Bilder eines wundersamen kindlichen Urvertrauens. Kindheitserinnerungen sind für das ganze Leben prägend. Bei mir verdichten sie sich im Weihnachtsfest.
Im Laufe der Jahre mischen sich in diese inneren Bilder jedoch auch starke Kontraste, wunde, brüchige Stellen, Verletzungen jenes kindlichen Urvertrauens: Und auch dieses tritt für mich gerade am Weihnachtsfest besonders spürbar hervor - der Tod eines nahen Angehörigen, der nun im kindlich vertrauten Weihnachtsbild fehlt, Enttäuschungen und innere Verwundungen, die dem kindlichen Glauben, daß es rundherum und schlichtweg gut ist mit unserer menschlichen Existenz, den sicheren Grund entzogen haben. Damit ist nicht nur der ganz natürliche Prozeß der erwachsenen Entzauberung der kindlichen Phantasiewelt gemeint - zumal heute ja, nach dem zeitweiligem Verschwinden der Märchen, Kinder wie Erwachsene wieder bereitwillig in die Schule der Zauberlehrlinge gehen, darunter solche, die Phantasie und Kreativität fördern, darunter aber auch manche faustisch-dunkle Gesellen. Nein, was ich meine, geht tiefer. Es ist der Angriff auf das, was Hermann Hesse den "Zauber des Anfangs" nannte, der, wie er noch glaubte, uns in allen Stufen und Wandlungen unseres Lebens geheimnisvoll "beschützt und der uns hilft zu leben". Wir können ja die Bilder des nun fast vergangenen Jahres auch am Weihnachtsfest nicht einfach verdrängen. Der 11. September markiert für unsere Generation den Zeitpunkt eines boden- und sinnlosen Einsturzes innerer Sicherheiten, das Auftreten einer Dämonie des Terrors, in der jede kindliche Lebensbejahung grundlegend eliminiert zu sein scheint.
Seit meiner Kindheit begleitet mich ein Weihnachtslied, dessen bildhafte Sprache mir immer mehr zum verdichtenden Symbol von Lebenserfahrungen wurde: Maria durch ein Dornwald ging.

Maria trägt den Zauber des Anfangs, das Geheimnis des werdenden Lebens unter ihrem Herzen, in der bergenden Höhle ihres verwundbaren Leibes. Sie trägt dieses zarte Wunder des Lebens durch einen Dornwald, der schon sieben Jahr kein Laub getragen, ein Symbol alles Unfruchtbaren, Lebensfeindlich-Aggressiven - schärfer läßt sich der Kontrast kaum darstellen.
Ein Gedicht der jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs hat mich auf diesem Hintergrund schon seit langem angesprochen. Sie schrieb es im Hinblick auf den Schicksalsweg ihres Volkes. Es ist in seiner bildhaften Dichte nicht leicht zu verstehen. Aber ziemlich schnell wird man mit den Metaphern dieses Gedichts auch Bilder unserer Zeit, Bilder, denen wir standhalten müssen, verbinden. Hören wir in einen kurzen Auszug hinein: "Ich kenne nicht den Raum, wo die ausgewanderte Liebe ihren Sieg niederlegt ..., noch wo das Lächeln des Kindes bewahrt ist, das wie zum Spiel in die spielenden Flammen geworfen wurde ..."
"Die ausgewanderte Liebe" - "das Lächeln des Kindes, das wie zum Spiel in die spielenden Flammen geworfen wurde"... Bilder unsäglichen Elends treten da vor Augen: Familien auf der Flucht, Kindergesichter ohne Hoffnung, Menschen, die das Lachen verlernt haben. Im Spiel der Macht, im Spiel mit der Angst, im Spiel mit dem Feuer wird der Mensch zum Spielball des Menschen: "homo ludens" als Abgrund. Das, was eigentlich Inbegriff des Kindseins ist, stärkster Ausdruck des bleibenden Kindes in uns: die arglose, lebensfroh unbeschwerte Fähigkeit zu spielen, genau das pervertiert zum grausamen Spiel des Terrors, zum Spiel der Macht, aus dem alles Arglose verbannt zu sein scheint. Hatten die Bilder von den in das World Trade Center gelenkten Flugzeugen nicht geradezu etwas Spielerisches - als stammten sie von einem jener Computerspiele, die den Unterschied zwischen der tatsächlichen und der virtuellen Wirklichkeit so gefährlich leicht verschwimmen lassen? Wo könnte im Spiel solcher Flammen noch das Lächeln des Kindes bewahrt bleiben?

Die Dichterin Nelly Sachs wußte um die irdische Heimatlosigkeit ihres jüdischen Glaubens. Abraham, der Urvater des Glaubens für Juden, Muslime und Christen, zog einst auf Gottes Geheiß aus seiner angestammten Heimat aus. In seinem Herzen trug er die Verheißung einer Nachkommenschaft "so zahlreich wie die Sterne am Himmel". Diese Verheißung eines radikal, das heißt, in der Wurzel neuen Anfangs prägt seitdem das gläubige Bewußtsein. Angefochten und angezweifelt, verunsichert und verwundet war und ist diese gläubige Hoffnung dennoch gerade in den kleinen und großen Katastrophen der Menschheit die einzige Kraft, die Menschen aufrichtet und sie dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt als einzigem "Heilmittel" entreißen kann. Der Glaube bewahrt das Lächeln des Kindes vor dem vernichtenden Spiel der Flammen. Auch das Gedicht von Nelly Sachs mündet, vorsichtig aber bestimmt, in solchem gläubig-hoffenden Aufblick:

"Ich kenne nicht den Raum, ... wo das Lächeln des Kindes bewahrt ist, .... aber ich weiß, daß dieses die Nahrung ist, aus der die Erde ihre Sternmusik herzklopfend entzündet."

Immer wieder begegnen mir als Seelsorger beeindruckende Menschen, die trotz unbegreifbarer Schicksalsschläge nicht verbittert sind. Die Kraft des Glaubens hat in ihnen, angefochten und umkämpft, dennoch das Lächeln des Kindes bewahrt. Immer wieder begegnen mir unvergeßliche Menschen, die trotz erlebter Demütigung und Gewalt nicht verhärtet sind. Eine tiefere Kraft hat in ihnen, vielleicht gar von außen verspottet und bloßgestellt, dennoch das Lächeln des Kindes bewahrt. Immer wieder begegnen mir erstaunliche Menschen, die, obgleich abgeschoben und vereinsamt, dennoch nicht verzweifelt sind. Die gläubige Hoffnung hat in ihnen, häufig von der gleichgültigen Umwelt unbemerkt, dennoch das Lächeln des Kindes bewahrt.
Dieses Lächeln des Kindes kann man an solchen Menschen wahrnehmen. Es erschließt sich allerdings nur so, wie man ein Kunstwerk erkennt. Dann aber durchdringt es alles: die Gestik und Mimik, die Gestalt und das Antlitz. Es kann selbst noch in den Tränen solcher Menschen spürbar werden. Hier wird anschaulich, was wir meinen, wenn wir sagen, daß wir durch das göttliche Kind von Betlehem zu Kindern Gottes werden.
"Was trug Maria unter ihrem Herzen: ein kleines Kindlein ohne Schmerzen." Im Kind von Betlehem besiegelt Gott die alte Verheißung und gibt ihr ein menschliches Angesicht im Lächeln des Kindes. Er wirkt in den Tiefen der Erde ein neues Kunstwerk, damit wir die ars vivendi, die Kunst zu leben, an diesem Kinde lernen: "Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden." Wir sind aus dem Fluch herausgerissen, uns gegen die Dornen des Lebens panzern zu müssen. Wir sind aus dem Fluch gerissen, anderen oder gar uns selbst Gewalt antun zu müssen. Natürlich ist diese Kunst zu leben nicht durch einen Zauberspruch herbeizuführen. Sie braucht unseren Mut, uns den Dornen auszusetzen, das heißt, uns verwundbar zu machen. Die Geschichte der Menschheit kennt, Gott sei Dank, viele Beispiele von Frauen und Männern, die diesen Weg der mutigen Gewaltlosigkeit gegangen sind. Und ihre Schritte über Grenzen, ihre Schritte auf den Feind zu, haben nicht selten verwandelnde Kraft besessen, weil sie an das Lächeln des Kindes in jedem, wirklich in jedem Menschen glaubten. Und siehe: Da haben die Dornen Rosen getragen.



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